4 Die E-Ökonomie regeln oder zumindest lenken
Alle Marktwirtschaften beruhen auf Regeln (Polanyi 1944). So wie es nie separate Regeln für eine Fax- oder Telefonwirtschaft gab, wird es auch keine separaten Regeln für eine Internet-Wirtschaft geben – vielmehr werden die Entscheidungen, die wir über die E-Ökonomie treffen, Regeln sowohl für die Netze der Informationstechnologien, die neue Marktbeziehungen definieren, als auch für das neue Geschäftssystem, das zu ihrer Entstehung beigetragen hat, von entscheidender Bedeutung für die „traditionelle“ Wirtschaft sein. Wir sind über den Punkt hinaus, an dem einfaches Herumbasteln ausreichen wird. Wir sind auch über den Punkt hinaus, an dem wir die Illusion aufrechterhalten können, dass das Internet losgelöst und unabhängig vom Rest der Wirtschaft und Gesellschaft existieren kann. Die Cyberwelt ist mit der „traditionellen“ Welt verflochten und nicht unabhängig von ihr. Libertäre Phantasien über die Internet-Wirtschaft haben sich überholt. Bei der Regulierung in dieser neuen Ära geht es letztlich darum, wie politische Entscheidungen mit den technischen Möglichkeiten zusammenspielen. Lawrence Lessig unterscheidet in seinen jüngsten Arbeiten zwischen dem „West Coast Code“, dem Code, der definiert, wie die Netze und Programme im technischen Sinne funktionieren, und dem „East Coast Code“, den von den politischen Entscheidungsträgern ausgearbeiteten Gesetzen und Vorschriften (Lessig 1999, Rheingold 1993, Reid 1995). Die wichtigsten Debatten werden sich letztlich darum drehen, was die Regulierung tun kann und sollte, um die technischen Möglichkeiten zu verändern, die die Art der Netzwelt, die wir haben, die Art der durch den Code konstruierten Realitäten und Unternehmen, die wir entwickeln, und damit die Art der Wirtschaft, die wir aufbauen, prägen.
Der Prozess der Übersetzung von Werten für eine neue Ära oder die Schaffung neuer Regeln, die neue Werte umfassen, ist mit qualitativen Veränderungen im Geschäfts- und Gesellschaftsleben verflochten, die etablierte politische Vereinbarungen neu aufbrechen. Die Wahl der Regeln hat oft große Auswirkungen auf den privaten Gewinn. Es ist schwer vorstellbar, dass mehr auf dem Spiel steht, wenn ein neues Governance-‚System‘ gleichzeitig im eigenen Land und als Verhandlung zwischen mehreren nationalen Systemen geschaffen wird. Es ist schon schwierig genug, die anfänglichen politischen Debatten zu strukturieren. Vielleicht weil sie hauptsächlich unter Technologen geführt wurde, war die frühe Debatte von libertären Vorstellungen durchsetzt, dass die Regierung und vielleicht sogar traditionelle Formen der politischen Auseinandersetzung irgendwie aus etwas ausgeschlossen werden könnten, das locker Cyberspace genannt wird (Barlow 1996). Heute wird allgemein anerkannt, dass technische Entscheidungen über den Markt den Charakter unserer Gemeinschaften und unseres Gemeinwesens in grundlegender Weise berühren (Lessig 1999). Und dass umgekehrt die Entscheidungen, die wir in einer Epoche der Datennetze in Bezug auf die Gemeinschaft zu treffen versuchen, ihrerseits die Marktplätze prägen (Post 1995). Die sich daraus ergebende politische Debatte ist nicht einfach eine um Vorteile und Interessen, sondern es geht um grundlegende Werte und grundlegende Entscheidungen über Märkte, Gemeinschaft und Demokratie. Diese Art von Debatten formt politische Allianzen neu und verändert den Charakter des Gemeinwesens, wenn die Akteure ihre Interessen in der New Economy neu definieren (Litan und Swire 1998).
Es gibt eine Reihe tiefgreifender Fragen, die bereits heute auf der Tagesordnung stehen: Wettbewerbspolitik, Besteuerung, geistige Eigentumsrechte und Datenschutz. Sie eröffnen Debatten darüber, welche Art von E-Ökonomie, welche Regeln für die internetgestützte Reorganisation von Unternehmen, welche Arten von virtuellen Gemeinschaften mit welchen Rechten auf Meinungsäußerung und Anonymität, welche Arten von Netzwerkarrangements, welche Architekturen von Codes erforderlich sind. Grundlegende wettbewerbspolitische Fragen werden derzeit beispielsweise über das Schicksal von Microsoft ausgefochten (US vs Microsoft Corporation: Conclusions of Law and Final Order 2000, Bork 2000). Ganz allgemein wird die Art und Weise, wie das Netz und andere Schlüsselelemente der Infrastruktur (wie Betriebssysteme, wie im Fall von Microsoft) reguliert werden, bestimmen, wer an der neuen E-Ökonomie teilnehmen kann und zu welchen Bedingungen. Dies wird einen starken Einfluß auf die nationalen Muster des elektronischen Geschäftsverkehrs haben, sowohl auf die Geschwindigkeit der Transformation als auch auf die Modelle, die angenommen werden, weshalb Entscheidungen über Microsoft letztendlich viel wichtiger sind als nur die Entscheidung über die Zukunft dieses einen Unternehmens.
Ein zweiter Themenkomplex berührt eher traditionelle Fragen des Regierens und des Staates, wie z.B. die Besteuerung. Auch wenn die Zahlen noch gering sind, besteht kaum ein Zweifel daran, dass in einigen Jahren ein ganz erheblicher Teil des Handels über elektronische Netze abgewickelt werden wird (Shop.org/Boston Consulting Group 1999). Die Frage, ob und wie das Internet besteuert werden soll, wird immer mehr zu einer Debatte darüber werden, wie und wo es insgesamt besteuert werden soll, und nicht nur ein Nebenschauplatz sein. Die Intensität und Dringlichkeit der neuen Debatte wird direkt von dem Einfluß abhängen, den die Verlagerung des Transaktionsortes auf die Einnahmequellen der Regierungen und ihre Fähigkeit, Dienstleistungen für ihre Gemeinschaft zu erbringen, hat.
Aber die grundlegendsten Fragen betreffen die Information – wem sie gehört und was mit ihr zu tun ist. Dabei geht es zumindest um Fragen des geistigen Eigentums, der Privatsphäre und der Redefreiheit. Hier werden die neuen Technologien vertraute Debatten auf neue Gebiete politischer Werte und der politischen Theorien, die hinter diesen Werten stehen, ausdehnen. Die Privatsphäre ist ein dramatisches Beispiel. Durch die Überwachung unserer Aktivitäten in einer computergestützten Wirtschaft kann außerordentlich viel über uns bekannt werden. Die Bank oder das Kreditkartenunternehmen weiß, was wir kaufen, und kann das Ausgabeverhalten auf Ausfallrisiken hin überwachen, z. B. auf eine mögliche Scheidung, die durch unerwartete Kaufgewohnheiten bei Blumen oder Schmuck nahegelegt wird. Der Lebensmittelladen weiß, was Sie essen. Ein intelligentes Verkehrssystem, das die Verkehrsströme steuert, kann wissen, wo Sie sind, wohin Sie gehen und wann. Wie können die Daten verwendet werden? Können sie kombiniert werden? Oder an eine Versicherungsgesellschaft verkauft werden? Oder dem Finanzamt zur Verfügung gestellt?
Eine neue Beziehung zwischen dem Datenschutz gegenüber der Regierung und dem Datenschutz gegenüber kommerziellen Interessen zeichnet sich ab. Ist das Gesetz in den Vereinigten Staaten – das ursprünglich geschaffen wurde, um den Bürger vor dem Staat und staatlichen Maßnahmen wie dem Abhören zu schützen – in einer Zeit angemessen, in der privat kontrollierte Daten ein präzises Bild unseres Lebens liefern können, das weitaus detaillierter ist als alles, was die Regierung wissen kann? Welche Rechte sollte die Regierung haben, um auf diese privat gesammelten Daten zuzugreifen? Ein vorgeschlagener politischer Ansatz sieht Eigentumsrechte an den Daten über uns vor, die wir als Einzelpersonen verkaufen oder zurückhalten können. Doch dieses Eigentumsrecht schließt genetische Daten über uns, die von Ärzten oder Chirurgen in der medizinischen Praxis erhoben werden, nicht ein. Ein zweiter Ansatz würde vorschlagen, dass die Privatsphäre eine Funktion der Bedürfnisse der Gemeinschaft ist, dass es Grenzen für die persönlichen Daten geben muss, die im Interesse der Sicherheit der Gemeinschaft gesammelt oder weitergegeben werden können. Die Frage des Schutzes der Privatsphäre geht schnell in die Frage der Sicherheit der Kommunikation und der Transaktionen über, was wiederum zu einem Gleichgewicht zwischen Privatsphäre und Sicherheit und Schutz der Gemeinschaft führt. Die Komplexität der Werte, die bei solchen Entscheidungen eine Rolle spielen, sorgt dafür, dass die Debatten langwierig sein werden.
Was Themen wie Privatsphäre, geistiges Eigentum, Redefreiheit, Verbraucherschutz oder Besteuerung gemeinsam haben, ist, dass die Debatte über die Art von Gemeinschaften, die wir bevorzugen, mit der Art und Weise verwoben wird, wie wir unsere neuen elektronischen Marktplätze betreiben werden. Nehmen wir die Frage der Sicherheit und der Verschlüsselung. Auch hier muss das Gleichgewicht zwischen der Privatsphäre und der nationalen Sicherheit sowie den polizeilichen Zwecken wiederhergestellt werden. Auch die Frage der Zuständigkeit, d. h. welche politische Einheit für Angelegenheiten wie Steuern und Verbraucherschutz zuständig ist, muss neu überdacht werden. Denken Sie an das Gleichgewicht zwischen freier Meinungsäußerung und dem Schutz von Minderjährigen vor unangemessenen Inhalten. Sollte die Lösung in technischen Filtergeräten bestehen, die den Zugang zu Inhalten blockieren, die Eltern ablehnen würden? Oder sollten wir stattdessen nach Lösungen suchen, die öffentliche Regeln erfordern? Einige Fragen werden mit der Zunahme netzgestützter Transaktionen einfach auf die politische Tagesordnung gesetzt werden. Was auch immer Sie von der Besteuerung im Netz halten, stellen Sie sich vor, wie die Debatte ablaufen würde, wenn ein Großteil der kommerziellen Transaktionen im Netz stattfinden würde, aber nicht besteuert würde. Öffentliche Dienstleistungen, von Straßen bis zu Schulen, würden nicht wegfallen, aber die Struktur der Besteuerung wäre gezwungen, sich grundlegend zu ändern.
Erschwerend für jede dieser Debatten kommt hinzu, dass sie nicht endgültig in einem Land gelöst werden können. Wenn die Datenschutzbestimmungen in Europa und den Vereinigten Staaten unterschiedlich sind, wie arbeiten dann Unternehmen von AOL bis IBM? (Litan und Swire 1998). Während bestimmte Fragen durchdacht und ausgefochten werden, muss darauf geachtet werden, dass die verschiedenen nationalen Lösungen ausreichend miteinander in Einklang gebracht werden, um den Betrieb des globalen Informationssystems zu gewährleisten. Die Ära, in der man sich nationale Monopol-Telefonsysteme als geschlossene, fast wasserdichte Systeme vorstellen konnte, die von einem nationalen Kartell von Anbietern bereitgestellt und an den Grenzen oder auf halbem Weg über einen Ozean miteinander verbunden wurden, ist der Ära miteinander verbundener Datensysteme, globaler Dienstleistungsanbieter und globaler Ausrüstungsunternehmen gewichen. Die Verbindung getrennter Systeme an den Grenzen wird schwierig sein; wahrscheinlicher ist es, dass die Regeln harmonisiert, d. h. identisch oder interoperabel gemacht werden. Aber eine Lösung wird gefunden werden müssen.
Die Entwicklung der E-Ökonomie ist eine bemerkenswerte Chance für die Weiterentwicklung der empirischen und theoretischen Sozialwissenschaft. Es handelt sich dabei nicht um einen separaten Forschungsbereich für einige wenige Beobachter, die sich für die technologische Entwicklung und die Politik des technologischen Wandels interessieren. Die Informationstechnologie durchdringt jeden Aspekt von Unternehmen, Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt. So wie Ausdrücke wie „E-Commerce“ und „Internet-Wirtschaft“ angesichts des großen Anteils kommerzieller Transaktionen und wirtschaftlicher Aktivitäten, die über digitale Netze abgewickelt werden, bedeutungslos werden, dürfte auch die Unterscheidung zwischen Forschungen zur „Politischen Ökonomie“ und zur „Politischen E-Ökonomie“ sinnlos werden. Das Verständnis der Art und Weise, wie technologische, organisatorische und politisch-rechtliche Veränderungen bei der Gestaltung einer Zukunft zusammenwirken, die durch allgegenwärtige digitale Netzwerke gekennzeichnet ist, die zahllose Knotenpunkte weltweit miteinander verbinden, wird für unser Verständnis der politischen Ökonomie, sei es inländisch, vergleichend oder international, und für unser Verständnis der Gesellschaft als Ganzes von wesentlicher Bedeutung sein.
Die Verfolgung dieser Veränderungen wird, gelinde gesagt, schwierig sein. Kurzfristig werden wahrscheinlich bestehende Koalitionen oder neue Koalitionen, die sich aus vertrauten Interessengruppen in einem bestehenden institutionellen Umfeld zusammensetzen, die Verhandlungen führen. Langfristig jedoch wird sich die politische Soziologie von Gemeinschaften aller Art dramatisch verändern. Einzelpersonen werden ihre Interessen anders definieren, neue Interessengruppen werden entstehen, neue Koalitionen werden sich bilden, und neue Vereinbarungen werden getroffen und in völlig neuen oder grundlegend veränderten Institutionen verankert werden. Die sich vollziehenden Veränderungen haben in der Tat das Potenzial, die Konfiguration und Inszenierung des sozialen und politischen Lebens radikal zu verändern. Und wir stehen erst ganz am Anfang dieses Wandels.