DISKUSSION
Die Ziele der Lippenrekonstruktion sind sowohl funktionell als auch ästhetisch. Orale Kompetenz, Muskelintegrität und eine adäquate Stomaöffnung sind entscheidend für eine funktionelle Lippenrekonstruktion. Die Beachtung der anatomischen Orientierungspunkte der Lippe, wie z. B. die weiße Rolle oder der Übergang zwischen Zinnober und Haut, ermöglichen eine kosmetisch natürliche Rekonstruktion. Aufgrund der einzigartigen Struktur und des Aussehens der Lippen bietet es sich an, wann immer möglich vorhandenes Lippengewebe für eine „gleichartige“ Rekonstruktion zu verwenden, da entferntes Gewebe in der Regel zu schlechteren Ergebnissen führt. Dieses Konzept ermöglicht außerdem die Erhaltung eines angrenzenden, innervierten Orbicularis-oris-Muskels, um eine bessere funktionelle Rekonstruktion zu erreichen. Lokale Lappen, einschließlich Kreuzlippenlappen, haben sich zu den Hauptstützen der Rekonstruktion größerer Deformitäten entwickelt, die sich nicht durch einen direkten oder gleitenden Lippenverschluss schließen lassen.
Der erste berichtete Fall eines zweizeitigen gestielten „Lip-Switch“-Lappens wird Sabattini im Jahr 1838 zugeschrieben. Die Verwendung eines Lappens, der auf den labialen Ästen der Gesichtsarterie basiert, wurde jedoch 1898 von Dr. Robert Abbe als vollständige philtrale Rekonstruktion bei beidseitigen Lippenspalten populär gemacht.1 Wie ursprünglich beschrieben, ist der Abbe-Lappen etwa halb so breit wie der Defekt (um die transversale Längendiskrepanz zwischen den vorhandenen Lippen angemessen zu teilen), wobei die Höhe des Lappens der vertikalen Dimension des Defekts entspricht. Der Lappen wird mit einem Stiel zur Seite des Defekts hin angelegt. Wenn möglich, wird die mittlere Unterlippe als Spenderstelle verwendet, da diese bei Männern in der Regel behaart ist und die am wenigsten sichtbare Narbe hinterlässt. Die weiße Rolle sollte im Voraus markiert werden, da sie durch Blässe oder Blutungen verdeckt werden kann. Der Lappen wird einschließlich der Haut, des Muskels und der Schleimhaut angehoben, wobei am Zinnoberrand darauf geachtet wird, dass ein kleiner Teil der Schleimhaut und die Arteria labialis erhalten bleiben. Der Lappen wird gedreht und inseriert, wobei darauf geachtet wird, die anatomischen Orientierungspunkte auszurichten, einschließlich des Verschlusses des Orbicularis oris und der Übereinstimmung mit der weißen Rolle. Durch vorsichtiges Umstülpen der vernähten Ränder wird ein „Einkerben“ verhindert und die Narbenbildung minimiert. Nach 2 bis 3 Wochen wird der Stiel durchtrennt und der Lappen inseriert.1,3
Diese Vollhautlappen werden heute als Abbe-Lappen bezeichnet, wobei viele beschriebene Modifikationen ihre Rolle bei der Rekonstruktion von Ober- und Unterlippendefekten aufgrund von angeborenen Anomalien, Traumata oder Neoplasien fest etabliert haben.2 Die Hauptindikation für den Abbe-Lappen ist ein vollflächiger Defekt, der ein bis zwei Drittel der Lippe umfasst, bei intakter Mundpartie.3,4 Es ist wichtig zu beachten, dass in der Akutsituation das verfügbare Gewebe so gut wie möglich genutzt werden sollte, um einen Wundverschluss zu erreichen. Nach dem Wundverschluss wird eine Zeit der Wundkontraktur zugelassen, um die Defektgröße zu minimieren. Der Abbe-Lappen sollte nicht in der Notaufnahme oder bei einer akuten Hundebiss-Situation durchgeführt werden. Eine Rekonstruktion vor dieser Zeit der Wundkontraktur würde eine große Menge an Spendergewebe erfordern, ein hohes Risiko infektiöser Komplikationen mit sich bringen und möglicherweise zu schlechteren Ergebnissen führen.
Ein solides Verständnis der Hautanatomie ist wichtig für das Design und die Anhebung des Lappens. Je nach Lage des Defekts ist der Stiel des Abbe-Lappens die Arteria labialis superior oder inferior, die ihren Ursprung in der Arteria facialis unmittelbar lateral der Mundwinkel hat. Diese Gefäße verlaufen dann in einer horizontalen Ebene tief in der Schleimhaut über dem Orbicularis-oris-Muskel, um in der Mittellinie mit den kontralateralen Ästen zu anastomosieren. Die Arteria labialis superior versorgt die Oberlippe mit Endästen, die die Nasenflügel und die Nasenscheidewand versorgen. Die Arteria labialis inferior versorgt die Unterlippe und den oberen Teil des Kinns mit Blut.5 Die Oberlippe wird über die Infraorbitalnerven und die Unterlippe über die Mentalnerven, die durch die Foramina mentales austreten, mit Gefühlen versorgt. Kleine kutane Äste werden während der Lappenhebung durchtrennt, aber die spontane sensorische Erholung ist oft ausgezeichnet.
Der Abbe-Lappen ist eine ausgezeichnete Wahl für die Rekonstruktion von Vollhautdefekten der Lippe mit Ausnahme der oralen Kommissur. Seit mehr als 100 Jahren ist er eine vielseitige Technik zur Rekonstruktion der Ober- und Unterlippe, die gute funktionelle und ästhetische Ergebnisse liefert. Seine Anwendung wird als Beispiel für die Rekonstruktion von „Gleichem mit Gleichem“ sicher fortbestehen.