In Anbetracht der auffallenden Ähnlichkeit der nordischen Gesellschaften ist es interessant festzustellen, wie unterschiedlich einige von ihnen auf die aktuelle Covid-19-Krise reagiert haben. Dänemark und Norwegen zum Beispiel haben schnell eine Arbeits- und Schulsperre verhängt und ihre Grenzen geschlossen. Im Gegensatz dazu hat Schweden mit einem vergleichsweise laxen Ansatz zur Durchsetzung sozialer Distanzierung durch gesetzliche Maßnahmen internationales Interesse geweckt. Unabhängig davon, welcher Ansatz „richtig“ ist, haben die verschiedenen Reaktionen die unterschiedliche Art und Weise offenbart, in der jedes Land geführt wird, insbesondere im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Regierung und Verwaltungsbehörden, wie z. B. Gesundheitsämtern, sowie auf die Besorgnis über die Fragilität des demokratischen Systems als Ganzes. Diese Unterschiede sind oft in historischen Traditionen und Erfahrungen begründet. Johan Strang, außerordentlicher Professor am Zentrum für Nordische Studien an der Universität Helsinki, geht hier auf einige der Gründe für diese Unterschiede ein.
2020.04.06 | Johan Strang
Unterschiedliche geschichtliche Entwicklungen und demokratische Traditionen sind vielleicht einige der Gründe dafür, dass Dänemark, Finnland und Norwegen unterschiedlich auf Covid-19 reagiert haben – und warum Schweden einen ganz eigenen Ansatz verfolgt hat. (Beachten Sie, dass diese Karte nur die im Artikel genannten nordischen Länder zeigt). Foto: colourbox.dk.
*Bitte beachten Sie, dass sich dieser Artikel nur auf die genannten nordischen Länder (Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden) und nicht auf die gesamte nordische Region bezieht.
Unterschiedliche Organisationsformen der Leitungsorgane
Einer der wesentlichsten Gründe für die unterschiedlichen Reaktionen auf die Covid-19-Krise in den nordischen Ländern sind die unterschiedlichen Verwaltungstraditionen im Osten und Westen des Nordens. Während Finnland und Schweden vergleichsweise kleine Ministerien und autonome Verwaltungsbehörden haben, sind in Norwegen und Dänemark die Politiker direkter mit der Verwaltung betraut. Daher war es in Dänemark und Norwegen einfacher, schnell mit politischen Entscheidungen zu reagieren – und sogar Behörden und deren Fachwissen zu übergehen, wenn dies als politisch notwendig erachtet wurde. Die dänische Regierung verhängte rasch Beschränkungen und schloss ihre Grenzen, obwohl die Epidemiologen der dänischen Gesundheitsbehörde (Sundhedstyrelsen) dies für unnötig hielten.
In Schweden ist der staatliche Epidemiologe häufiger im Fernsehen zu sehen als der Ministerpräsident, und er gilt weithin als der „Kapitän“, der Schweden durch den Sturm steuern wird. Sowohl in Norwegen als auch in Dänemark ist der Premierminister eine klare Frontfigur. In Finnland ist Ministerpräsidentin Sanna Marin ebenfalls eine Frontfigur, betont aber immer wieder, dass sie den Empfehlungen des THL (Terveyden ja hyvinvoinnin laitos, oder das finnische Institut für Gesundheit und Wohlfahrt) folgt.
BILDER: In Dänemark, Norwegen und Finnland steht bei Pressekonferenzen der Ministerpräsident im Vordergrund, in Schweden ist es meist der Epidemiologe Anders Tegnell von der schwedischen Gesundheitsbehörde (Foto links). Foto rechts: Dänemarks Ministerpräsidentin, Mette Frederiksen, statsministeriet.
Vergangene Erfahrungen beeinflussen aktuelle Ansätze
Die Tatsache, dass Finnland trotz der gleichen Verwaltungstradition wie Schweden anders gehandelt hat als Schweden, mag etwas mit den finnischen historischen Erfahrungen zu tun haben, nicht zuletzt aus dem Zweiten Weltkrieg. Es besteht eine gewisse Bereitschaft, bei plötzlichen Krisen entschlossen und kollektiv zu handeln. Die Lektion aus dem Krieg war, dass alles in Ordnung ist, wenn alle die Befehle des Staates befolgen, aber es besteht auch die Erwartung, dass die Regierung bereit ist, schnell und energisch zu handeln. Finnland ist auch besser als die anderen nordischen Länder mit Notvorräten usw. ausgestattet, was in den anderen nordischen Ländern lange Zeit kaum eine Rolle gespielt hat. In Norwegen und Dänemark waren die Kriegserfahrungen eher mit der Verantwortung des Einzelnen verbunden, während man in Schweden vielleicht sagen kann, dass eine vergleichbare Krisenerfahrung fehlt.
BILD: Finnland ist wohl besser auf Krisen vorbereitet. Hier ist die Pressekonferenz der finnischen Regierung am 16. März 2020 zu sehen, als die Schließung von Schulen angekündigt wurde. Bild: Laura Kotila, Flickr, Finnish Government Office.
Schweden macht einen Alleingang – warum?
- Unbeirrtes Selbstbewusstsein: Schweden ist das einzige nordische Land und eines der wenigen Länder in Europa, das seine Schulen nicht geschlossen und keine rigorosen, gesetzlich erzwungenen sozialen Distanzierungsmaßnahmen eingeführt hat. Es braucht viel Selbstvertrauen, um anders zu handeln als fast alle anderen Länder. Das hat Schweden in höherem Maße als die anderen nordischen Länder, die stärker von der kleinstaatlichen Haltung geprägt sind, dass es wichtig ist, anderen zu folgen. Zu erkennen und zu erklären, woher dieses schwedische Selbstbewusstsein kommt, ist eine der schwierigsten und spannendsten Fragen für Philosophen und Kulturhistoriker, die sich für die nordischen Länder interessieren. Meine eigene Theorie ist, dass es eine Frage der Zeitlichkeit ist. Im 20. Jahrhundert, der Blütezeit des schwedischen Modells, kam manchmal die Idee auf, dass Schweden eines der modernsten Länder der Welt sei und damit anderen Ländern „voraus“. Wenn man also, wie Schweden, an der Spitze der menschlichen Entwicklung steht, hat es keinen Sinn, sich mit anderen, weniger fortgeschrittenen Gesellschaften zu vergleichen. Stattdessen gibt es die Bereitschaft und die Gewohnheit, jede Frage eigenständig zu lösen.
- Zentrale Rolle der Wirtschaft: In der schwedischen Diskussion stehen die wirtschaftlichen Aspekte viel stärker im Mittelpunkt, und zwar in einem viel früheren Stadium als in den anderen nordischen Ländern. Es ist nicht abwegig, dass dies damit zusammenhängt, dass Schweden in vielerlei Hinsicht neoliberaler und finanzgetriebener ist. Gleichzeitig darf man aber auch nicht vergessen, dass die Ökonomen in Schweden historisch gesehen einen zentraleren Platz in der Debatte einnehmen als in den anderen nordischen Ländern. Der schwedische Wohlfahrtsstaat, „folkhemmet“ (das Volksheim), war in vielerlei Hinsicht in erster Linie ein wirtschaftliches Projekt. Seine wichtigsten Architekten waren Wirtschaftswissenschaftler wie Gunnar Myrdal, Ernst Wigforss, Bertil Ohlin, Gösta Rehn und Rudolf Meidner. Und der Schwerpunkt des Know-hows in Schweden liegt nach wie vor bei Personen aus dem Bereich der Wirtschaft. Wenn ich mich richtig an Henrik Stenius, den Gründer des Zentrums für Nordische Studien an der Universität Helsinki, erinnere, sind die zentralen Experten in Krisensituationen in Schweden Ökonomen, in Finnland Historiker und Philosophen, in Norwegen Juristen und Historiker und in Dänemark Politikwissenschaftler. Das soll nicht heißen, dass die Schweden der Wirtschaft Vorrang vor der Gesundheit und dem menschlichen Leben einräumen oder dass sie gefühllose Kosten-Nutzen-Analysen anstellen. Vielmehr gibt es in Schweden eine starke Tradition des Denkens, dass eine funktionierende Wirtschaft eine Voraussetzung für das Wohlbefinden und die Gesundheit der Menschen ist. Die Sicherheit des „Volksthemas“ konnte nur durch eine gestärkte Wirtschaft erreicht werden, und umgekehrt sind die grausamen sozialen und psychischen Folgen der Rezession der 90er Jahre in Schweden und Finnland noch frisch im Gedächtnis der Menschen, besonders in Finnland.
- Die Schweden tun, was man ihnen sagt: In den anderen nordischen Ländern – vielleicht besonders in Dänemark – hat Schweden den Ruf einer paternalistischen, prohibitiven Gesellschaft, was nicht zu der liberalen Haltung zu passen scheint, die Schweden während der Corona-Krise an den Tag gelegt hat. Wie passt das zusammen? Wenn man genauer hinsieht, sind es wohl nicht so sehr die Verbote an sich, über die sich die Dänen lustig machen, sondern die Art und Weise, wie gehorsam die Schweden verschiedene Empfehlungen befolgen. Glaubt man den dänischen Anekdoten, so essen die Schweden fünf Scheiben Brot pro Tag, wenn die schwedische Gesundheitsbehörde (Folkhälsomyndigheten) fünf Scheiben Brot pro Tag empfiehlt. Das Klischee ist eher, dass die Schweden naiv darauf vertrauen, dass der Staat weiß, was das Beste für sie ist. Dies ist übrigens genau die gleiche Logik, die Schwedens Umgang mit der Covid-19-Krise durchzieht: Die schwedischen Behörden vertrauen darauf, dass die Schweden im Allgemeinen den Empfehlungen des staatlichen Epidemiologen folgen, sich die Hände zu waschen und sich voneinander fernzuhalten. Es besteht keine Notwendigkeit, soziale Distanzierungsmaßnahmen gesetzlich zu erzwingen. In einer breiteren vergleichenden Perspektive ist das Vertrauen in die Behörden in der gesamten nordischen Region (einschließlich Dänemark) hoch, so dass diese Erklärung für die schwedische Ausnahmestellung sicherlich ihre Grenzen hat.
BILD: In Finnland und Norwegen ist die Demokratie stärker legalisiert als in Dänemark und Schweden. Norwegen hat immer noch die meisten Anwälte pro Kopf unter den nordischen Ländern. Bild: The Supreme Court of Norway, By Bjoertvedt – Own work, CC BY-SA 3.0.
Demokratie spielt sich anders ab
In Finnland und vor allem Norwegen standen die individuellen Rechte und andere verfassungsrechtliche Aspekte der Maßnahmen gegen die Pandemie viel stärker im Mittelpunkt der Debatte als in Dänemark und Schweden. Das mag daran liegen, dass Finnland und Norwegen jüngere Nationen und stärker legalisierte Demokratien sind als Dänemark und Schweden. Aus historischen Gründen spielt die Verfassung sowohl in Finnland als auch in Norwegen eine besondere Rolle. In Finnland waren die alten schwedischen Gesetze während der russischen Zeit (1809-1917) von besonderer Bedeutung, und es gab im 20. In Norwegen nimmt die Eidsvoll-Verfassung von 1814 einen besonderen Platz in der nationalen Geschichte ein, und die führenden Politiker des 19. Jahrhunderts waren häufig Juristen. Norwegen hat immer noch die meisten Juristen pro Kopf der Bevölkerung in den nordischen Ländern. Dänemark und Schweden würden eher den Vorrang der Politik vor dem Recht betonen. Als die schwedische Regierung Anfang April einen Gesetzentwurf vorlegte, der ihr zusätzliche Befugnisse zur Bewältigung der Covid-19-Krise einräumen sollte, war das Hauptgesprächsthema nicht die möglichen Folgen für die Rechte des Einzelnen, sondern die Tatsache, dass der Gesetzentwurf es der Regierung ermöglichen würde, das Parlament (Riksdag) zu umgehen. Historisch gesehen war der Vorrang der Politik vor dem Recht Teil der Rechtsphilosophie der Wohlfahrtsgesellschaft (skandinavischer Rechtsrealismus). Der Leitgedanke war, dass das Gesetz nicht in der Lage sein sollte, progressive Reformen zu verhindern. Stattdessen wurde das Gesetz als Werkzeug in den Händen des Gesetzgebers gesehen. Diese Denkweise setzt ein historisch bedingtes Vertrauen in die Stärke der Demokratie und ihre Fähigkeit voraus, Kräften zu widerstehen, die sie von innen heraus umstürzen wollen. Während also Dänemark und Schweden von einem demokratischen Selbstvertrauen (oder alternativ von Naivität) geprägt sind, sind Norwegen und Finnland eher besorgt über die Zerbrechlichkeit der Demokratie in Krisenzeiten.
Don’t knock ‚the war effort‘
Eine interessante letzte Beobachtung ist, wie stark die Unterstützung für den Ansatz eines bestimmten Landes als den richtigen ist. In Schweden wurden Personen, die eine andere Meinung als die des Landes vertraten, als „Amateur-Epidemiologen“ beschimpft, und in Finnland wurden sogar drastische Maßnahmen, wie die Isolierung der gesamten Provinz Uusimaa, ohne große Opposition oder Diskussion umgesetzt. Die Unterstützung für die nordischen Regierungen ist stabil und nimmt in der gesamten Region zu, und die Zeitungen neigen dazu, Nachrichten zu verbreiten, die das Gefühl verstärken, dass „unser“ eigenes Land auf dem richtigen Weg ist. Doch je länger die Krise anhält, desto mehr Raum scheint es für kritische Debatten zu geben. Dies gilt für alle nordischen Länder, aber vielleicht besonders für Schweden, was darauf zurückzuführen ist, dass Schwedens Ansatz kontroverser ist, oder vielleicht auch darauf, dass Schweden ein größeres Land ist, in dem es mehr Raum für abweichende Meinungen gibt – ungeachtet seines bekannten Konformismus. Der Verweis auf andere nordische Länder ist ein zentraler Bestandteil dieser neuen Debatten, und in diesem Sinne ist es interessant festzustellen, dass die Krise den inner-nordischen Vergleich als nationale politische Praxis in der gesamten Region wiederbelebt hat. In Krisenzeiten handeln die nordischen Länder vielleicht nicht ähnlich, aber sie sind weiterhin bestrebt, voneinander zu lernen, um beim nächsten Mal besser vorbereitet zu sein.
Weitere Literatur:
- Francis Sejersted, The Age of Social Democracy: Norway and Sweden in the Twentieth Century (Princeton University Press, 2011).
- Johan Strang ‚Scandinavian Legal Realism and Human Rights: Axel Hägerström, Alf Ross and the Persistent Attack on Natural Law‘ Nordic Journal of Human Rights, 36, 3 (2018) pp. 202-218.
- Pauli Kettunen ‚The Society of Virtuous Circles‘ in Models, Pauli Kettunen und Hanna Eskola, eds, Models, Modernity and the Myrdals (University of Helsinki, 1997).
- Sheri Berman, Das Primat der Politik (Cambridge University Press, 2006).